Stielke hat geschrieben: ↑20.04.2024, 21:01
Sicher, Europa hat großartige Musik, aber von einem Orchester zu sprechen?
Von *einem* Orchester zu sprechen wäre natürlich nicht ganz korrekt, tatsächlich gab es in der Geschichte von Miller International bzw. des Europa-Labels viele davon. Angefangen von den “101 Strings” ab Ende der 50er Jahre, mit denen die Zusammenarbeit von Dave Miller und Andreas Beurmann begann und von denen bis heute einige Stücke in den Europa-Hörspielen gerne eingesetzt werden (allen voran der an Rimsky-Korsakov angelehnte “Song of India”
https://www.youtube.com/watch?v=VyONYhyvKf0). In der Anfangszeit von Miller entstanden viele weitere klassische und populäre Orchesteraufnahmen, von denen später auch etliche Einzug in die Hörspiele gehalten haben.
Dedizierte Orchester-Hörspielmusik gab es spätestens ab 1969, als der US-amerikanische Komponist und Flötist Wilford L. Holcombe Musik für das englischsprachige Abenteuer- und Märchenhörspiel-Programm von Miller komponierte und arrangierte. Darunter “Treasure Island”, “Snow White and the Seven Dwarfs”, “Alice in Wonderland” und “Rag Doll's Adventures in Animal Land” (später auf Deutsch als "Puppenjulchen und die Zaubermaus" vertont), von denen man sich einige hier anhören kann:
https://www.youtube.com/channel/UCxRkrC ... oO2wZSq1ww). Die Musik aus diesen Hörspielen wurde im Laufe der Jahre auch in den Europa-Hörspielproduktionen eingesetzt, unter anderem bei DDF 4 (“Snow White – Magic Mirror”: Hintergrundmusik bei der Beschattung des Einzigartigen Gabbo), DDF 17 (erste Zwischenmusik “Alice in Wonderland – Down The Rabbit Hole”) oder auch im Macabros-Intro (“Treasure Island”).
Ebenfalls von Ende der 60er/Anfang der 70er stammen die Krimi-Jazz-Stücke und Akzente, die man z.B. aus den Perry-Rhodan-Einzelhörspielen, “UX-3 antwortet nicht”, “Fünf Freunde helfen ihrem Kameraden”, Edgar Wallace 1-5, bei DDF der “Geisterstadt”, der “Spur des Raben” und DDF-Adventskalender-Folgen wie “Eine schreckliche Bescherung” kennt:
https://hoerspielforscher.de/kartei/sui ... #page-main
Auch nicht ganz so sinfonisch, sondern bis auf wenige Ausnahmen eher kammermusikartig kamen die Hörspielmusiken von Chris J. Evans daher und bestimmten neben den frühen Werken von Holcombe den Sound der Europa-Kinder- und Abenteuerhörspiele von etwa 1970-1975. Hier ein Medley:
https://vimeo.com/298342962. Viele der aus Hui Buh bekannten Musikakzente wurden übrigens tatsächlich für Einzelhörspiele wie Oliver Twist oder Der Graf von Monte Cristo komponiert und werden bis heute immer wieder mal eingesetzt, bei DDF sei hier vor allem die verschwundene Seglerin, Feuerturm und Das Erbe des Meisterdiebes genannt.
1978 trat dann wieder Bill Holcombe auf den Plan und schuf (wohl im Zuge des Krieg der Sterne-Hypes) eine Reihe von sinfonischen Musiken, die wie John Williams’ Star Wars-Soundtrack von Gustav Holsts Planeten-Suite inspiriert waren, und auch bei der Namensgebung direkten Bezug auf das Vorbild nahmen:
https://vimeo.com/776591657 Diese Musik, gespielt vom London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Vernon Handley, wurde zum ersten Mal im Europa-Hörspiel-Ripoff “Krieg im All” verwendet, und sukzessive in anderen Science-Fiction-Hörspielen vor allem in Commander Perkins und Perry Rhodan. Auch bei DDF kommt die Galactic Visions-Musik vor, ich habe sie z.B. als Kind in “Geheimakte Ufo” gehört und mich dabei fast zu Tode gegruselt.
1979 und 1981 steuerte Holcombe weitere Sets an sinfonischen Orchestermusiken bei, die teilweise von seinen eigenen Filmmusiken aus den 60er Jahren abegekupfert (“Violent Midnight” und “Curse of The Living Corpse” seien hier genannt), oder von John Williams oder auch von den Werken klassischer Komponisten (z.B. Igor Strawinsky oder Ferdé Grofé) inspiriert waren von denen einige den meisten DDF-Hörern bekannt sein dürften:
https://vimeo.com/showcase/9975744/ Diese Aufnahmen mit dem London Philharmonic Orchestra, die unter anderem am 16.07. 1979 in den CTS-Studios in Wembley stattfanden, werden seitdem unter dem Sammelpseudonym “Betty George” in unzähligen Hörspielen eingesetzt. Nicht alles, was unter Betty George veröffentlicht wurde, ist allerdings von Holcombe, z.B. hatte er mit dem aus dem Fluch des Rubins bekannten “Disco Pepito” nichts zu tun und “Dracula, Prelude for Orchestra” brachte Holcombe zwar in seinem Musikverlag heraus, komponiert wurde es aber von Carson Rothrock (Partitur:
https://myorchestrarentals.com/wp-conte ... de-FS1.pdf, MIDI-Audio:
https://myorchestrarentals.com/wp-conte ... lude-1.mp3).
1982 gab es wohl ebenfalls eine Session mit sinfonischer Musik für Europa, diesmal kamen aber auch Bigband-Elemente und bei manchen Stücken ein durchgängiges Schlagzeug hinzu:
https://vimeo.com/856398184
1983 wurde es noch jazziger. Zum einen ergänzten die Krimi-Stücke von David Allen das Europa-Hörspielmusikrepertoire (Edgar Wallace 7-12, Larry Brent 1-5, TKKG 23-25, DDF 143):
https://vimeo.com/showcase/9975755 Zum anderen entstanden experimentelle Bläserstücke, die man aus Larry Brent 6, 8 und 9 sowie DDF 119 und 203 kennt:
https://vimeo.com/842551942#t=3302s. Außerdem sinfonische, ebenfalls bisweilen schräge Holcombe-Musiken, die ursprünglich als Horror-Soundtrack veröffentlicht wurden, aber fast ausschließlich im Science-Fiction-Bereich eingesetzt wurden und werden (Perry Rhodan, DDF 33 Neuabmischung, DDF 80…):
https://vimeo.com/298342057
1984 ging’s weiter mit experimentellem und perkussivem Bläser- und Klavierjazz. Wahrscheinlich ursprünglich als Soundtrack für Asterix und die Abenteuerserie gedacht, hielten die Stücke auch z.B. bei DDF 35, Tom und Locke und in TKKG Folge 42 Einzug, später auch gerne in Hörspiele mit Piratenbezug, z.B. den Lego-Piraten, bei DDF der Neuabmischung des Roten Piraten, dem Geisterschiff oder dem versunkenen Schiff. Hier eine Zusammenstellung von Rekonstruktionen aus dieser Session, die unter Mitwirkung von Holcombes Sohn (Bill Holcombe junior, French Horn) in den Morningstar Studios, East Norriton, Pennsylvania, aufgenommen wurde:
https://vimeo.com/showcase/9975760
1985 gab’s schließlich nochmal ein paar Stücke mehr oder weniger schräger Bläser/Klavierjazz-Musik u.a. für die Regenbogen-Bären, Willi Wipfel und Asterix, vermutlich ebenfalls von Holcombe…
https://hoerspielforscher.de/kartei/mus ... and+(1985)
…bis Holcombes hörspielmusikalisches Schaffen mit der sinfonischen Bigband-Musik von 1987 seinen krönenden Abschluss fand. Vor allem wohl als zusätzliche Untermalung der James-Bond-O-Ton-Hörspiele beabsichtigt, dominierten diese Stücke auch die 10-teilige Techno-Neuauflage der Gruselserie (unter dem Pseudonym “Harley & Co”,) die erste Professor-Mobilux-Staffel, TKKG Folge 48-54, die Zurück in die Zukunft-Hörspiel-Remakes. Bei DDF kamen vereinzelte Stücke aus dieser Session in den 40er und 50er Folgen vor, richtig prominent wurde sie aber erst in Folge 111, 115, 129, 189 und 205 eingesetzt:
https://vimeo.com/showcase/9975741
Das war aber noch nicht das Ende orchestraler Hörspielmusik bei Europa. Nach einigen mehr oder weniger geglückten Imitationsversuchen sinfonischer und Jazzorchester-Klänge von Jan-Friedrich Conrad, Andris Zeiberts und Jens-Peter Morgenstern gab man zum DDF-Relaunch 2008 wieder echte Orchesterstücke in Auftrag. Diese wurden von STIL komponiert, dem Berliner Filmorchester eingespielt und z.B. in Feuermond (“Rocky Beach Symphony”), dem Fluch des Drachen oder dem Haus des Schreckens gefeaturet:
https://hoerspielforscher.de/kartei/int ... etail=3474
Andreas Beurmann fungierte bei vielen dieser Stücke wohl als Auftraggeber und war auch bei Aufnahmen anwesend. Als Dirigent stand er dabei aber vermutlich nicht auf der Bühne, auch wenn Heikedine Körting das im Kommentar zu “Die drei ??? und das Museum” so behauptete. Und Manfred Rürups Band hieß zwar “Release Music Orchestra”, spielte aber Fusionjazz und hatte mit den sinfonischen Orchsterstücken nichts zu tun. Diese wurden bei den Fünf Freunden auch erst ab Folge 9 eingesetzt. Detaillierte Infos, welche Musik wo enthalten ist, findet man übrigens auf
https://hoerspielforscher.de/kartei/hoerspiel und
https://phil-moss.de (ergänzen sich gegenseitig).